Intensivstation – Die Deutsche Eiche

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Mein Seminar ist vorbei, die Arbeit am Institut ist erledigt. So sitze ich nun mit meinem Freund im Wohnzimmer auf der Couch und habe die Beine bequem auf dem Couchtisch abgelegt. In einem Monat beginnt die Ausbildung zur Sterbebegleiterin, ich bin mir gar nicht sicher, ob ich die Krankenhausgeschichten bis dahin abhandeln kann. Zur Not muss ich mit Überschneidungen berichten, das ist hoffentlich nicht zu verwirrend.

Der große, zähe Block der Intensivstation liegt vor mir. Die Erinnerungen sind teilweise verschwommen und sehr durchwachsen, da es die unfreundlichste Station war, auf der ich gearbeitet habe. Es gab zwar einige Ausnahmen, doch insgesamt war die neurochirurgische Intensivstation ein sechswöchiger Abschnitt meines Praktikums, den ich lieber weggelassen hätte. Stattdessen wäre ich lieber länger auf der Notaufnahme geblieben oder früher in den Kreißsaal gegangen. Aber der Ausbildungsvertrag mit dem Krankenhaus sah eben Anderes vor.

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Meinen ersten Tag auf der Intensivstation trat ich mit gemischten Gefühlen an. Von mehreren Seiten war ich bereits vorgewarnt worden, dass die neurochirurgische Intensivstation keinen Hehl daraus machte, dass Praktikanten eine Belastung waren. Nun, ganz Unrecht mag diese Station nicht damit haben. Praktikanten sind in den ersten Tagen tatsächlich eine Belastung, wie jeder andere neue Mitarbeiter auch. Sie wissen nicht, welche Routine die Station am Laufen hält, wer wieviel zu sagen hat, wie der Umgangston ist, wo die Medikamente, Sauerstoffflaschen oder Rea-Wagen sind. Dass sie ab und zu im Weg stehen oder tatenlos herumsitzen, wenn sich niemand um sie kümmert, ist daher ganz normal.

Ich habe allerdings noch keinen Praktikanten kennengelernt, der keine Lust gehabt hätte, etwas Neues zu lernen. Insofern lohnt es sich, ein wenig Zeit und Mühe zu investieren, damit der Praktikant bald zu einer Hilfe wird und sich in die Station einbringen kann. Ich kann aber nicht sagen, inwieweit ich als eingefleischter Mitarbeiter einer Station nach drei Jahrzehnten noch die Muße hätte, von Grund auf den Urschleim des Stationslebens begreifbar zu machen, also halte ich mich mit Urteilen diesbezüglich lieber zurück.

Ich kam pünktlich zur Teambesprechung hinter dem Empfangsschalter. Eine kleine Schwester mit dunklen Locken und Brille sah mich irritiert an. „Wer bist denn du?“

Ich nannte meinen Namen und deutete gleichzeitig auf mein Namensschild, das mich als Praktikantin auswies. „Ich bin die neue Praktikantin und bin für sechs Wochen hier eingeteilt.“

Genervte Blicke wurden ausgetauscht. Die kleine Schwester zuckte mit den Schultern. „Dann setz dich.“

„Vielen Dank“, sagte ich höflich und setzte mich auf den mir zugewiesenen Platz. Sie würden sich schon an mich gewöhnen, wenn ich freundlich blieb und nicht allzu viel im Weg herumstand.

Immer mehr Mitarbeiter fanden sich in der Besprechungsrunde ein. Die Schwestern und Pfleger aus der Nachtschicht waren leicht von den Mitarbeitern der Frühschicht zu unterscheiden. Die riesigen Kaffeebecher und die ebenso riesigen Augenringe verrieten sie. Dem Markttreiben am Schalter der Notaufnahme nicht ganz unähnlich begannen die Mitarbeiter untereinander zu feilschen, wer welche Patienten übernahm.

„Ich hatte Frau Müller schon zwei Tage, ich weiß genau, was sie braucht. Ich werde sie nehmen.“

„Aber ich hatte Herrn Meier auch zwei Tage, das reicht. Ich will lieber Frau Müller haben.“

„Gut, ich nehme die drei Zimmer nebeneinander. Dreizehn bis Fünfzehn.“

„Wer drei Zimmer nimmt, muss die Praktikantin mitnehmen.“

„Dann nehme ich nur Vierzehn und Fünfzehn.“

„Ich hab dich jetzt schon mit drei Zimmern eingetragen.“

„Ich will die Praktikantin aber nicht. Tut mir Leid, Dings.“

Da ich annahm, dass man mit „Dings“ mich meinte, setzte ich zu einer Antwort an, doch ich kam nicht dazu, etwas zu sagen. Das Geschnatter ging weiter. Ein wenig kam ich mir so vor, als würde ich auf der schmalen Holzbank in der Turnhalle meiner Oberschule sitzen und als Letzte in die Volleyballmannschaft gewählt werden. Das kam relativ häufig vor, weil ich im Volleyball sehr schlecht war. Der Umstand, dass ich mich wie mit dem Boden verwurzelt nie vom Fleck bewegte und die Bälle einfach an mir vorbeizischen ließ, brachte mir meinen Spielerspitznamen ein. Die Deutsche Eiche. Meist hatten sich meine Freundinnen zum Schluss erbarmt und mich mit in die Mannschaft genommen. Sie wussten aber auch genau, dass ich ihnen als Entschädigung für meine schlechte Spielleistung ein paar Kekse backen würde. Ich habe damals schon gerne gebacken.

Ob ich dem Personal Kekse anbieten sollte, wenn man mich übernahm?

Ein älterer Pfleger mit Glatze und Brille hob die Hand, als wären wir tatsächlich in der Schule. „Ich nehm die Praktikantin.“

Leises, erleichtertes Aufstöhnen strich durch die Besprechungsecke. Dankbar lächelte ich ihn an und trat an seine Seite, als die Runde sich zerlief, um an den einzelnen Zimmern die Übergabe zu machen. „Danke, dass ich bei dir mitlaufen darf.“

„Kein Problem.“ Er winkte ab. „Komm mit, wir haben Zimmer Fünf und Sechs.“

Gemeinsam mit der Schwester aus der Nachtschicht traten wir vor den Zimmereingang. In Zimmer Fünf lagen zwei ältere Frauen an Beatmungsgeräten. In Zimmer Sechs lag ein älterer Herr am Beatmungsgerät, während sich sein Bettnachbar fixiert und mit nach oben gedrehten Augen auf seiner Matratze wand. Der Kontakt mit ansprechbaren Patienten würde in den nächsten Wochen wohl ein wenig kurz kommen. Ich beobachtete die verkniffenen Gesichter des Pflegepersonals. Wenn zwischenmenschlicher, direkter Austausch nur mit diesen Menschen erfolgen konnte, würden es ein paar traurige Wochen werden.

Die Schwester brachte er fertig, einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse zu nehmen und gleichzeitig die Krankenakte aufzuschnipsen. Ich würde mich bei dem Versuch vermutlich mit heißem Kaffee überschütten und mir scheußliche Verbrühungen zuziehen. Immerhin könnte ich dann wieder auf die Notaufnahme. Sehnsüchtig starrte ich ihre Kaffeetasse an, während sie Bernie über Veränderungen in der Medikamentengabe und Vorkommnisse in der Nacht aufklärte.

„Das linke Bett in der Fünf braucht mehr Schmerzmittel, das musst du dem Arzt noch sagen. Rechts muss mal umgelagert werden. In der Sechs muss links mal abgesaugt werden, rechts hat ins Bett geschissen. Aber richtig übel. Das hab ich nicht mehr geschafft.“

„Kein Problem“, sagte Bernie. „Das macht die Praktikantin.“

„Ach“, machte ich. Ich hatte eher damit gerechnet, dass er mir die Station zeigte oder die Abläufe erklärte, bevor er die unangenehmen Aufgaben an mich abtrat. Auf der Notaufnahme hatte ich manches Mal zwar beim Waschen geholfen, doch allein hatte ich mich noch nie um die Säuberung eines Patienten gekümmert.

Die Schwester war fertig und ihre Kaffeetasse leer. Sie verabschiedete sich und stapfte den Gang hinunter. Bernie deutete auf die Wandschränke und das Waschenbecken. „Unten im Schrank findest du Seife, Lappen und Handtücher. Dort drüben liegt Bettzeug und ein neues Hemd. Er hat eine Arterie, also pass ein bisschen auf. Ich komm später nochmal.“

Damit verschwand er um die Ecke. Ein wenig fassungslos blieb ich allein im Zimmer zurück. Sollte ich den vor sich hin murmelnden Mann ganz allein waschen? Durfte ich ihm die Fixierung abnehmen, um das Bett neu zu beziehen? Und was war eine Arterie? Ich war überfordert, mir wurde heiß.

Vorsichtig schlug ich die Bettdecke zurück und musste würgen. Die Beine des Mannes waren komplett mit Exkrementen beschmiert, ebenso sein Bauch und das Laken. Hektisch band ich mir eine Maske um Mund und Nase. Orangenöl konnte ich nicht finden. Ich atmete tief durch und füllte erst einmal warmes Wasser und Seife in die Waschschüssel. Ich stellte sie auf den Klapptisch des Bettes und sammelte Waschlappen und Handtücher aus den Schränken. Dann trat ich an den Mann heran und sagte: „Ich werde Sie jetzt ein wenig sauber machen. Sagen Sie Bescheid, wenn etwas unangenehm für Sie ist.“

Seine Augen drehten sich in meine Richtung und musterten mich. Seine Mundwinkel bogen sich in einem zahnlosen Grinsen nach oben. „Hallo, schönes Fräulein. Wie schön, wie schön.“

Ich nickte und knöpfte die Ärmel seines Hemdes auf. Als ich das Hemd von seiner Brust zog, wurde sein Grinsen breiter und sein Tonfall anzüglich. „Wie schön, wie schön…“

Kopfschüttelnd räumte ich das besudelte Bettzeug zur Seite und wischte den gröbsten Schmutz mit den Wegwerftüchern von seiner Haut. Sein Penis war ebenfalls verdreckt. Als ich den Lappen hob, um ihn zu säubern, kam er mir entgegen. Eine Erektion am ersten Tag.

Er zischte leise. „Macht dich das an?“

Einige Sekunden lang taxierten wir uns gegenseitig. Dann hielt ich ihm den mit Kacke beschmierten Lappen vor die Nase. „Und Sie?“

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie seine Erektion in sich zusammensank. Zufrieden lehnte ich mich zurück und setzte die Arbeit fort. Er schwieg und sah mich böse an. Mein Innenleben versuchte einen wackligen Spagat zwischen Ekel und Mitleid, während ich ihn umlagerte, um das neue Laken über die Matratze zu ziehen. Ich verspürte das Bedürfnis, ihm meine Reaktion zu erklären.

„Wissen Sie, Frauen finden es nicht gut, wenn man sie bei der Arbeit belästigt. Das ist kein gutes Benehmen.“

Sein Kiefer wackelte hin und her, seine Lippen pulsierten. Als ich verstand, was er vorhatte, trat ich schnell ein paar Schritte zur Seite. Die Spucke landete auf der Matratze. Also keine guten Ratschläge.

Ich beeilte mich, ihn anzuziehen und zuzudecken, um weiteren Angriffen zu entgehen und kippte das schmutzige Wasser ins Waschbecken. Dann trat ich auf den Gang und stieß erleichtert die Luft aus. Bernie bog um die Ecke und blieb stehen, als er mich sah.

„Na? Schon fertig?“

„Ich hab die Sauerei und eine Erektion beseitigt“, teilte ich ihm mit. „Was jetzt?“

Er lachte meckernd und nickte mit dem Kopf in die Richtung des Flurs. „Jetzt zeig ich dir erstmal, wo die dreckigen Schüsseln hinkommen und wie die Station hier aufgebaut ist.“

Bernie führte mich durch die Räumlichkeiten der Station, erklärte mir die Schränke, die Wagen und die Zuständigkeiten und stellte mich sogar noch einmal den Schwestern einzeln vor. Er ließ mich kleine Handreichungen machen und zwei Zugänge legen und zeigte mir, wie die Überwachung der Patienten funktionierte und wie man die Pflegekurve schrieb.

Am Ende des Tages klopfte er mir auf die Schulter. „So nutzlos bist du gar nicht. Geh nach Hause. Morgen kannst du wieder bei mir mitlaufen.“

„Danke.“ Ich atmete auf. Ich würde mich morgen nicht wieder wie die Deutsche Eiche aus der Schulzeit fühlen müssen.

Insgesamt war der erste Tag gut verlaufen. Vielleicht war die Intensivstation doch nicht so übel? Ich nahm meine Tasche und drückte die Stationstür auf. Dass mich die nächste Schicht buchstäblich in Ohnmacht versinken lassen würde, ahnte ich noch nicht.

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Anmerkung vom 25.10.2012:

Dieser Artikel wurde gestern über die Suchfunktion übrigens mit folgenden Schlagwörtern aufgespürt: „geschichte mit weibern, erektion kakke und peinlich“.

Ich danke der- oder demjenigen, der die Situation so herrlich direkt und treffend auf den Punkt gebracht hat. Ich habe sehr gelacht!

Über Alina

Ich bin Studentin und angehende Sterbebegleiterin. Ich habe schon immer gern besonders älteren Menschen beim Erzählen zugehört und möchte in meinem Blog berührende Lebensgeschichten sammeln, damit wir gemeinsam wieder lernen können, den Menschen um uns herum zuzuhören. Falls Ihr Fragen oder Anliegen habt, kontaktiert mich jederzeit unter pin.chen[at]live.com.

Eine Antwort »

  1. Ich könnte mir vorstellen, dass du dich damit, diese unangenehme erste Aufgabe einfach auszuführen ohne zu jammern oder zu meckern, von den meisten Praktikanten abgehoben hast und dir etwas Respekt verdient hast bei Bernie 🙂 Das bekommt bestimmt nicht jeder direkt am ersten Tag so selbstständig und gut hin, gerade bei so einem doch eher.. hmm.. eigenwilligen? Patienten. Ich hätte das wohl eher nicht so meistern können, erst Recht nicht, als der Patient auch noch eine Erektion bekommen hat. Du bist echt schlagfertig!

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  2. Hallo Amy!
    Eigenwillig trifft es gut!
    An sich ist es ja normal, dass hin und wieder Erektionen beim Waschen auftreten, oft ist das den Patienten auch sehr peinlich und man sieht darüber hinweg. Dieser Patient war eben spezieller. 🙂
    An sich war die ganze Situation verantwortungslos. Ich wusste ja nicht einmal, was ein arterieller Zugang ist und was zu beachten ist, ich hätte den Patienten auch verletzen können. Im Nachhinein hätte ich aus heutiger Sicht vermutlich anders reagiert und mir gezielt Hilfe gesucht. Aber das hab ich mich einfach nicht getraut. Das ist wohl auch etwas, was man erst lernen muss. Wenn du es von Anfang an so machen würdest, meisterst du die Angelegenheit also besser als ich. 😉

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    • Haha, ich würde beim Anblick des ersten Tropfens Blut umkippen und gefeuert werden, ganz zu schweigen davon, in so einer Situation einen kühlen Kopf zu behalten 😉
      Ich finde allerdings trotzdem, dass du dafür, dass es dein erster Tag dort war, gut reagiert hast. Ein Gefühl dafür, wann man nachfragen muss und wann man eine Situation selbst im Griff hat, kann man am ersten Tag wirklich nicht von Praktikanten erwarten – zu oft nachfragen wäre ja durchaus im Betrieb störend. Da ist aus meiner Sicht dann die ausgebildete Kraft in der Pflicht, nicht der Praktikant.

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  3. Da hast du Recht. Vielen Dank für deinen Zuspruch. 🙂
    Ich habe gerade deinen aktuellen Artikel gelesen und wünsche dir, dass du einen schönen und friedlichen Abend hast. Ich finde es toll, dass du immer weitermachst und habe da großen Respekt vor.

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    • Vielen Dank 🙂 Naja, welche Alternative gibt es zum einfach weitermachen schon? Keine echte. Die Blog-Welt tut mir geht – einerseits einfach alles aufschreiben zu können, andererseits Ablenkung zu finden und auf für mich verträgliche Weise mit anderen Menschen etwas Kontakt zu haben. Ich bin froh, dass es so viele liebe Leute wie dich im Netz gibt 🙂

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      • Hui, da werd ich rot und grinse. 🙂
        Schön, wenn dir das Bloggen gut tut und dass du damit eine Beschäftigung gefunden hast, die für Zerstreuung sorgt. Mach damit bloß weiter!

  4. respekt! ohne mullen und knullen den „test“ echt souverän bestanden. ich weiß nicht, ob ich nicht total überfordert gewesen wäre…

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  5. „ohne mullen und knullen“ 😀
    Die Redewendung kenne ich gar nicht. Wo sagt man das?

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  6. ich versteh ja nicht, warum man als praktikant nicht einfach mal 1 bis 2 tage eingearbeitet wird. da kann man doch danach viel besser helfen und auf lange sicht ist das doch viel effizienter..

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